Gesundheit
Psychische Gesundheit bei Kindern und Jugendlichen: Warnsignale erkennen und richtig handeln
Annika Eliane Krause · 23.06.2025
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© Photographee.eu/Adobe Stock
COPSY-Studie: Mehr psychische Belastungen seit Corona
Laut der COPSY-Studie, für die das Hamburger Uni-Klinikum seit der Corona- Pandemie einmal im Jahr 1.000 Kinder und Jugendliche im Alter von 11 bis 17 Jahren befragt, fühlt sich jedes dritte Kind psychisch belastet. Vor Corona war das noch bei jedem fünften Kind der Fall. Auch bei der Shell Jugendstudie 2024 ist ein zentrales Ergebnis die steigende Besorgnis über mentale Gesundheit: 58 Prozent der 12- bis 25-Jährigen gaben an, dass sie regelmäßig über Stress, Erschöpfung und Überforderung nachdenken. Besonders junge Frauen sind von diesen Belastungen betroffen: 67 Prozent der weiblichen Befragten fühlen sich oft durch schulische oder berufliche Anforderungen gestresst. Die Angst vor einem Krieg in Europa (81 Prozent) sowie die Sorge um die wirtschaftliche Lage und möglicherweise steigende Armut (67 Prozent) sind im Jahr 2024 bei den Jugendlichen an die Spitze der abgefragten Ängste gerückt. Es gibt also viele Faktoren, die die psychische Gesundheit von Kindern und Jugendlichen beeinflussen. Mit den Auswirkungen umzugehen und darauf zu reagieren, liegt im ersten Schritt in der Verantwortung der Eltern.
Ob Wutanfälle an der Supermarktkasse, eine geklaute Süßigkeit oder der erste Vollrausch als Teenager – in der Entwicklung eines Kindes gibt es emotionale, intensive und herausfordernde Etappen. Viele solcher Veränderungen gehören zum Familienalltag. Wenn problematische Verhaltensweisen allerdings nicht mehr selten, sondern häufig auftreten oder es einen plötzlichen Wechsel des Verhaltens gibt, sollte der Entwicklung des Kindes oder Jugendlichen besondere Aufmerksamkeit geschenkt werden.
Typische Symptome psychischer Auffälligkeiten
Bei Anzeichen für psychische Auffälligkeiten kann zwischen nach innen und nach außen gerichteten Symptomen unterschieden werden. Zu den äußeren Symptomen zählen Hyperaktivität, Wutausbrüche, Impulsivität, Reizbarkeit oder Leistungsverweigerung. Nach innen gerichtete Symptome umfassen Ängste, Übervorsicht, anhaltende Traurigkeit oder Sorgen, das Nachlassen persönlicher Interessen, Konzentrationsstörungen, Leistungsabfall, Schlafprobleme, Albträume, Entwicklungsrückschritte, körperliche Beschwerden wie Bauchschmerzen oder Übelkeit ohne physische Ursache, sozialer Rückzug sowie emotionale Abstumpfung. Im Alltag äußern sich diese Symptome in häufigen Konflikten, wiederholtem Lügen, der Vermeidung von Aktivitäten wie dem Schulbesuch, plötzlichem Leistungsabfall oder auffälligem Ess- und Trinkverhalten.
Häufige psychische Erkrankungen bei Kindern und Jugendlichen
Zu den häufigsten psychiatrischen Erkrankungen bei Kindern und Jugendlichen gehören Suchtprobleme (zum Beispiel Internet- oder Spielsucht), Angststörungen (zum Beispiel Panikattacken), Regulationsstörungen (wie ADHS), Bindungsstörungen, Essstörungen, Depressionen, Traumafolgestörungen (beispielsweise nach sexuellem Missbrauch) oder Zwangsstörungen (wie Waschzwang).
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Eine persönliche Erfahrung: Wenn die Traurigkeit bleibt
„Im Sommer 2022 fing es an, dass ich eine Traurigkeit in mir hatte, der ich keinen klaren Auslöser zuordnen konnte. Eine Zeit lang bin ich jeden Tag aufgewacht und musste mich zwingen, aufzustehen. Ich war energielos und habe nach der Schule nur noch im Bett gelegen und geweint. Während des Unterrichts habe ich die Traurigkeit unterdrückt, auch wenn ich die ganze Zeit hätte weinen können. Ich habe immer sehr darauf geachtet, dass niemand mitbekommt, wie es mir wirklich geht. Ich wollte andere Menschen nicht mit meinen Problemen belasten und habe mich aus Freundschaften zurückgezogen. Meiner Mutter ist meine Veränderung aufgefallen. Sie hat mich gefragt, was los ist, ohne mich zu einem Gespräch zu drängen. Wenn ich einfach nur geweint habe, war sie da und meinte, dass es okay ist. Dass sie meine Gefühle gemeinsam mit mir ausgehalten hat, war eine große Entlastung. In der Zeit hat sie mir oft abends etwas vorgelesen, um mich zu beruhigen und abzulenken. Sie hat mich gebeten, aufzuschreiben, wann diese Traurigkeit kommt: Das war über einen langen Zeitraum häufiger als dreimal pro Woche. Wir sind dann zur Kinderärztin und Frauenärztin gegangen, um mich körperlich abchecken zu lassen und meine Hormone zu kontrollieren. Da die Werte unauffällig waren, hat meine Kinderärztin eine Therapie vorgeschlagen. Dafür war ich sehr dankbar, weil mir die Idee selbst schon gekommen war, ich mich aber nicht getraut habe, diesen Wunsch zu äußern. Nach dem Vorschlag der Kinderärztin haben sich meine Eltern um einen Therapieplatz gekümmert und mich zum Erstgespräch begleitet. Mittlerweile geht es mir wieder besser und ich bin dankbar für die Unterstützung meiner Eltern in dieser schwierigen Zeit.“
Nora, 19 Jahre alt
Interview: Wie Eltern psychische Krisen bei Kindern begleiten können
Heike Petereit-Zipfel ist kommissarische Vorsitzende des Bundesverbandes der Angehörigen psychisch erkrankter Menschen. Als ihr Sohn in der Jugend psychisch erkrankte, fühlte sie sich oft alleingelassen. Mittlerweile bietet sie selbst die Hilfe an, die sie sich damals gewünscht hätte: Als freiberufliche Sozialarbeiterin, psychotherapeutische Heilpraktikerin, Familiencoach und durch Erste-Hilfe-Kurse für die psychische Gesundheit unterstützt sie Familien in Krisensituationen.
Warnsignale erkennen – aber nicht pauschalisieren
KÄNGURUplus: Wie können Eltern erkennen, dass ihr Kind psychisch belastet ist?
Heike Petereit-Zipfel: Dafür muss individuell der Charakter des Kindes betrachtet werden. Menschen sind unterschiedlich – manche Kinder suchen oft den Kontakt zu den Eltern, andere sind selbstständiger oder introvertierter. Wenn eine Veränderung des Wesens auftritt, kann das ein Indiz dafür sein, dass etwas nicht stimmt. Bei Rückzug sollten Eltern genauer hinschauen. Wenn keine Kommunikation mehr stattfindet, kein Kontakt mehr da ist, ist es die Aufgabe der Eltern, aufmerksam zu sein und den Kontakt durch ein Gespräch zu suchen. Weitere Anzeichen können sein, wenn Kinder nicht mehr die Dinge tun, die ihnen vorher Spaß gemacht haben. Oder wenn plötzlich Dinge Probleme bereiten, die vorher nie Probleme bereitet haben. Wenn Kinder abrupt schlechte Noten in der Schule haben oder sie anfangen, nicht mehr in die Schule zu gehen. Wenn sich Kinder aggressiv verhalten, ist das auch ein Grund dafür, sich ihnen zuzuwenden. Bei nichts von dem, was ich gerade gesagt habe, kann man davon ausgehen, dass es ein sicheres Indiz dafür ist, dass sich eine psychische Störung entwickelt. Aber es kann darauf hinweisen und erfordert besondere Aufmerksamkeit der Eltern.
Offen bleiben: So gelingt die Kommunikation mit dem Kind
Wie können Eltern darauf reagieren, wenn sie eine Veränderung bei ihrem Kind beobachten?
Ganz wichtig ist es, in Ich-Botschaften zu kommunizieren. Wir sollten teilen, was wir beobachten und was uns Sorgen bereitet. Dabei können wir betonen, dass wir nicht neugierig oder übergriffig sein wollen, sondern uns interessieren und uns das Kind wichtig ist. Wir dürfen nicht verurteilen oder zu stark zu einem Gespräch drängen. Als Eltern müssen wir flexibel sein und einen guten Raum für ein Gespräch schaffen. Wir können nicht verlangen, dass sich das Kind öffnet, wenn wir gerade Zeit dafür haben. Vielmehr müssen wir uns die Zeit für ein ruhiges Gespräch nehmen, wenn das Kind bereit ist, sich zu öffnen. Wir sollten dem Kind versichern, dass es uns vertrauen kann und das Gespräch erstmal unter uns bleibt, wenn ihm das wichtig ist. Manchmal hilft die einfache Frage: „Du wirkst so traurig, was ist eigentlich mit dir los?“ Wenn dann der Kummer herausgelassen wird, ist schon viel getan – denn je länger uns etwas belastet, umso schwieriger kann es werden, das Problem aufzulösen und umso leichter manifestiert sich daraus eine Störung.
Erste Hilfe für die Seele: Wo Eltern Hilfe finden
Wo können sich Eltern über Hilfsangebote informieren?
Bei uns auf der Seite des BApK (Bundesverband der Angehörigen psychisch erkrankter Menschen) gibt es weiterführende Links und Hilfsangebote. Dort gibt es zum Beispiel ein Selbsthilfenetzwerk und Beratungsangebote per Telefon oder E-Mail. Außerdem kann ich den Mental- Health-First-Aid-Kurs empfehlen. In den Ersthelfer-Kursen wird Grundwissen über verschiedene psychische Störungen und Krisen vermittelt. Es geht darum, wie Bezugspersonen Probleme erkennen und Betroffene zu professioneller Hilfe ermutigen sowie weitere Ressourcen aktivieren können. Die Kurse dauern insgesamt zwölf Stunden und finden online oder deutschlandweit in Präsenz statt. Mittlerweile gibt es auch einen Erste-Hilfe-Kurs mit dem Fokus auf junge Menschen, den ich Eltern, Lehrkräften und allen Menschen in Kontakt mit Kindern und Jugendlichen ans Herz legen möchte.
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Schuldgefühle verstehen – und loslassen
Wie können Eltern mit den Themen Schuld und Scham umgehen, wenn ihr Kind psychische Probleme hat?
Die Selbsthilfe ist sehr hilfreich zur Bewältigung dieser Belastung. Der Austausch mit anderen Eltern in ähnlicher Situation kann heilsam sein. Dazu kommt das Wissen über psychische Erkrankungen – zu verstehen, warum sich das Kind so verhält, hilft dabei, sich von dem Verhalten nicht persönlich angegriffen zu fühlen. Unabhängig von Schuld und Scham ist eine Auseinandersetzung mit dem eigenen Verhalten in Bezug auf die Probleme des Kindes aber immer sinnvoll und notwendig: Was habe ich dazu beigetragen und was kann ich dazu beitragen, dass sich etwas ändert? Es kann helfen, mal eine beobachtende Perspektive in der Familie einzunehmen: Wie gehen wir miteinander um, wie wertschätzend ist unsere Kommunikation, wie verlässlich und sicher ist unser Kontakt?
Können Sie einen konkreten Tipp geben, wie Eltern ihr Kind bei Herausforderungen unterstützen können?
Der finnische Psychiater Ben Furmann hat ein tolles Konzept entwickelt: „Ich schaff's!“ ist ein 15-Schritte-Programm, mit dem Eltern spielerisch und praktisch Lösungen mit ihren Kindern finden können. Mit dieser Methode überwinden Kinder Schwierigkeiten positiv und konstruktiv, indem sie neue Fähigkeiten erlernen. Die Haltung ist: Was brauchst du, damit du etwas anderes nicht mehr tun musst?
„Ich schaff’s!“ – Ein Konzept für den Alltag
Schritt 1: Probleme in Fähigkeiten verwandeln
Finden Sie zunächst selbst heraus, welche Fähigkeit das Kind erlernen muss, um das Problem zu überwinden.
Schritt 2: Sich auf eine zu erlernende Fähigkeit einigen
Besprechen Sie sich mit dem Kind und einigen Sie sich mit ihm darüber, welche Fähigkeit es zuerst erlernen möchte.
Schritt 3: Den Nutzen der Fähigkeit herausfinden
Helfen Sie dem Kind dabei zu erkennen, welche Vorteile es hat, diese Fähigkeit zu erlernen.
Schritt 4: Der Fähigkeit einen Namen geben
Fordern Sie das Kind auf, der Fähigkeit einen Namen zu geben.
Schritt 5: Eine Kraftfigur aussuchen
Lassen Sie das Kind ein Tier oder eine andere Figur auswählen, die ihm dabei helfen wird, die Fähigkeit zu erlernen.
Schritt 11: Die Fähigkeit üben
Einigen Sie sich mit dem Kind darüber, wie es die Fähigkeit üben wird.
Schritt 6: Helfer:innen einladen
Veranlassen Sie das Kind, eine Reihe von Menschen dazu einzuladen, seine/ihre Helfer:innen zu werden.
Schritt 7: Vertrauen aufbauen
Helfen Sie dem Kind dabei, Selbstvertrauen und Zuversicht aufzubauen, dass es die Fähigkeit erlernen wird.
Schritt 8: Die Feier planen
Planen Sie mit dem Kind schon frühzeitig, wie gefeiert werden soll, wenn es die Fähigkeit erlernt hat.
Schritt 9: Die Fähigkeit beschreiben
Bitten Sie das Kind, Ihnen zu beschreiben und zu zeigen, wie es sich verhalten wird, wenn es die Fähigkeit erlernt hat.
Schritt 10: Öffentlich machen
Informieren Sie die Menschen in seinem Umfeld darüber, welche Fähigkeit das Kind gerade erlernt.
Schritt 12: Erinnerungshilfen erfinden
Bitten Sie das Kind, Ihnen zu sagen, wie es möchte, dass die anderen reagieren, wenn es einmal seine Fähigkeit vergisst.
Schritt 13: Den Erfolg feiern
Wenn das Kind die Fähigkeit erlernt hat, ist es Zeit zu feiern und ihm eine Gelegenheit zu geben, allen Menschen zu danken, die es dabei unterstützt haben.
Schritt 14: Die Fähigkeit an andere weitergeben
Ermutigen Sie das Kind dazu, die neue Fähigkeit einem anderen Kind beizubringen.
Schritt 15: Zur nächsten Fähigkeit übergehen
Einigen Sie sich mit dem Kind darüber, welche nächste Fähigkeit es erlernen möchte.