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Familienleben

Portrait einer jüdischen Familie in Köln

Svenja Kretschmer · 23.04.2021

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David, Thomas, Martha, Galina und Clara aus Köln (v.l.n.r.) © Privat

David, Thomas, Martha, Galina und Clara aus Köln (v.l.n.r.) © Privat

im Jahr 2021 wird gefeiert, dass Jüd:innen seit 1700 Jahren in Deutschland leben. Zu diesem Anlass soll jüdisches Leben erlebbar gemacht und ein Zeichen gegen den erstarkenden Antisemitismus gesetzt werden. Die jüdische Gemeinde in Köln hat eine lange Geschichte und gilt sogar als die älteste nördlich der Alpen. Aber wie leben Juden eigentlich heute in Köln? KÄNGURU-Autorin Svenja Kretschmer geht dieser Frage auf den Grund.

Ich wähle die Nummer, die ich von einem Vorstandsmitglied der jüdischen Grundschule Lauder-Morijah in Ehrenfeld bekommen habe. Galina, die Frau am anderen Ende der Leitung kommt gleich zur Sache: „Ich weiß nicht, ob wir so eine passende Familie für Ihren Text sind“, warnt sie mich. „Wir sind nicht religiös, essen nicht koscher und an unserer Tür hängt auch keine Mesusah. Man könnte gar nicht ahnen, dass wir zur Hälfte Juden sind.“ Ich überlege einen Moment. Bin ich etwa wirklich an die falsche Familie geraten? Sollte ich für mein Vorhaben nicht besser mit Juden sprechen, die orthodox oder wenigstens religiös leben? Doch bereits ihre ersten Sätze haben mein Interesse geweckt. Da habe ich also eine Frau am Telefon, die sich nicht als gutes Beispiel versteht, obwohl sie sich selbst als Jüdin bezeichnet. Außerdem: Was bedeutet das überhaupt, wenn fünf Menschen derselben Familie „zur Hälfte Juden“ sind? Ich beschließe, sie und ihre Familie näher kennenzulernen, denn ich bin neugierig geworden.

Galinas jüdische Geschichte

Galina, die 47-jährige Mutter der Familie, wuchs zusammen mit ihren Eltern und ihrer jüngeren Schwester als Jüdin in der ehemaligen Sowjetunion auf. In einem System, in dem es keinen Platz für eine freie Religionsausübung gab. Ihre Großmutter war die Letzte, die vor 1917 eine jüdische Schule besucht hat und hebräisch sprach. „Aber wir sind Juden“, betont Galina „auch wenn unsere Mutter nicht religiös ist, hat sie uns die Zugehörigkeit zum jüdischen Volk und den jüdischen Traditionen weitergegeben.“

Anfang der 90er haben viele Juden der zerfallenden Sowjetunion nach Wegen gesucht, in ein anderes Land zu gehen, so auch Galinas Eltern. Als das Programm der Bundesrepublik kam, sowjetische Juden in Deutschland aufzunehmen, war die Entscheidung klar. So kam Galina 1992, als Neunzehnjährige, zusammen mit ihrer Familie aus der Ukraine nach Köln, wo sie nach einer sprachlichen Ausbildung ihr Studium begann. „Es war gut, so früh zu kommen“, findet Galina heute. „1992 waren wir als eine der ersten Kontingentflüchtlinge gezwungen, uns schnell zu integrieren. Unsere Einstellung war nicht, hier in Deutschland Russen zu bleiben, sondern nach vorne zu schauen.“

Und das tat jeder auf seine Weise. Während Galina sich auf ihr Studium konzentrierte, versuchten ihre Eltern, mit ihrem Beruf als Mathematiklehrer:innen in Köln Fuß zu fassen. Als das nicht funktionierte, beteiligten sich beide ehrenamtlich am gesellschaftlichen Leben. Galinas Vater, der wie der Rest der Familie in der Sowjetunion keinen Zugang zu seiner Religion fand, entdeckte so in Deutschland sein Interesse für das Judentum: „Es gibt nicht viele Gemeindemitglieder, die es schaffen, jeden Morgen um sieben Uhr in der Synagoge zu sein, aber mein Vater gehört dazu“, erzählt Galina. „Er ist bekannt in der Kölner Gemeinde und ist der Religiöseste von uns geworden.“

Noch während ihres Studiums hat Galina Thomas kennengelernt, der ebenfalls in Köln studierte. Heute leben die beiden mit ihren Kindern David (16), Clara (11) und Martha (8) in der Kölner Südstadt, im selben Haus wie Galinas Eltern. Alle drei Kinder haben den jüdischen Kindergarten besucht und die beiden Töchter auch die jüdische Grundschule.

Synagoge Köln © pixs:sell/Adobe Stock

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Familienleben, Tradition und Religion im Judentum

Mich interessiert, welche Rolle die jüdische Religion heute im Leben der Familie hat. Galina erzählt mir, dass sie damals überrascht war, dass Judentum in Deutschland so viel mit Religion in Verbindung gebracht wurde. „Für mich ist Judentum die Zugehörigkeit zu einem Volk, nicht mehr und nicht weniger. Es ist nicht die Religion, die für mich im Vordergrund steht. Traditionen und Feste schon, aber nicht die Religion.“

Im Frühling suchen sie Ostereier, am Pessach-Abend gibt es ein festliches Essen bei Galinas Eltern. Und besonders im Dezember feiern sie sehr viel: Weihnachten, Nikolaus und Chanukka. Martha, die Jüngste, mag Chanukka noch ein bisschen lieber als Weihnachten, „denn da bekommt man acht Tage lang ein Geschenk“, erklärt sie. Als ich sie nach ihrem Lieblingsfest frage, erzählt sie mir von Purim: „Ein Mann wollte, dass die Juden sterben. Aber auf die Art, wie er das gemacht hat, ist er selbst gestorben. Deshalb ist Purim das Fest, wo alles umgekehrt ist.“ Wie im Karneval verkleiden sich die Kinder, ziehen ihre Kleider falsch herum an oder gehen im Pyjama zur Schule. „Ich mag auch das jüdische Neujahr, Rosch Haschana“, erklärt sie weiter. „Da essen wir Äpfel mit Honig und eine Challah mit Zucker überstreut, damit es ein süßes neues Jahr wird.“

Galina freut es, dass ihre Kinder die jüdischen Feste und Traditionen und die hebräische Sprache kennenlernen können – das, was sie selbst damals in der Sowjetunion nie konnte. Dadurch bekam auch sie einen ganz anderen Zugang zum Judentum. Trotzdem ist für die Familie die Synagoge vor allem ein soziales Zentrum. Sie gehen hier zu den Festen oder ins Theater, David und Clara hatten hier auch Schachunterricht.

Ich frage die Kinder, was Judentum für sie bedeutet und ob sie sich als Juden bezeichnen. Von der Religion und Traditionen haben sie viel mitbekommen, aber wie sehr identifizieren sie sich damit?

David kann mit Religion im Allgemeinen am wenigsten anfangen. Er sagt: „Ich persönlich würde mich eher nicht als Jude bezeichnen, denn ich bete nicht und gehe nicht regelmäßig in die Synagoge. Ich bin Deutscher, zum Teil Ukrainer mit jüdischen Wurzeln, aber ich sehe das nicht so, dass wenn ich jüdische Wurzeln habe, ich zwingend jüdisch sein muss.“ Die achtjährige Martha meint: „In der Schule sagen alle, sie sind zur Hälfte Jude, weil sie nicht koscher essen. Also sage ich auch, ich bin zur Hälfte Hüdin, denn ich esse ganz normal.“

Marthas große Schwester Clara feiert bald ihre Bat Mitzwa. Hierbei entscheiden Mädchen mit zwölf Jahren, wie sie in Zukunft die jüdische Religion leben möchten. Für Clara ist das schon lange klar: „Ich will nicht koscher essen, die Feiertage werde ich weiterhin feiern, aber mehr möchte ich nicht machen.“

Thomas erste Berührung mit dem Judentum

Während Galina in der Ukraine aufwuchs, wurde Thomas in den 1980er Jahren im Oldenburger Münsterland groß. Seine Eltern gehören somit zur Nachkriegsgeneration einer streng katholisch geprägten Region. „Für uns Kinder war Religion aber eher so eine Pflichtaufgabe“, erinnert sich Thomas, „damit meine Mutter zufrieden ist. Mein Bruder und ich haben das gemacht bis wir 18 Jahre alt waren. Punkt 18 war es vorbei.“

Ich frage ihn, wie seine erste Berührung mit dem Judentum war und Thomas erzählt mir, dass die Religion in den ersten Jahren kein Thema war. Über Israel als Staat hätten sie viel gesprochen, aber der religiöse Bezug kam erst durch die Kinder. „Wir sind der ganzen Sache vielleicht am Anfang etwas naiv begegnet“, findet Thomas heute. „Wir haben eigentlich nur vereinbart, dass Religion für uns beide keine Rolle spielt und dass auch die Kinder nicht religiös erzogen werden sollen. Jetzt ist es natürlich so, dass sich das gewandelt hat. Die jüdische Religion ist schon ein Thema, mehr als das, was ich vor 15 Jahren gedacht hatte, da muss ich mich dann entsprechend anpassen.“ Bei Festen, die in der Synagoge stattfinden, ist er meist einer der ganz wenigen Nichtjuden. „Das ist eine orthodoxe Gemeinde, die einen starken Fokus auf Religion legt. Wenn man das nicht möchte, muss man auch Entscheidungen treffen“, sagt er und fügt hinzu: „Ich mache das für die Kinder. Wie wäre das denn, wenn der Papa nicht dabei wäre?“

Antisemitismus - Erfahrungen jüdischer Kinder

„Hier in Deutschland ist es ganz klar, dass man niemals etwas gegen Juden sagt. Das war in der Sowjetunion nicht so. Dort gab es Staatsantisemitismus”, erzählt mir Galina, als ich sie frage, wie es für sie ist, ausgerechnet in Deutschland zu leben und ob sie jemals mit Anfeindungen aufgrund ihrer jüdischen Wurzeln konfrontiert wurden. Galina hat nie verheimlicht, dass sie Jüdin ist. „Ich bezeichne mich als deutsche Jüdin“, sagt sie. „Das hat immer Fragen und Interesse aufgeworfen.“ Mit fünf Jahren habe ihre Mutter ihr zum ersten Mal gesagt, dass sie Juden seien. Was das war und was die anderen waren, davon hatte Galina damals keine Ahnung. Kurze Zeit später habe sie mit einem Nachbarsmädchen gespielt und saß mit ihr in einem Versteck. Da habe das Mädchen schließlich auf andere Nachbarn gezeigt und gesagt: „Die sind Juden.“ Den Unterton habe sie schon damals genau gehört.

Portraits dreier Kinder © privat

Clara, David und Martha (v.l.n.r.) © Privat

Als 12-Jährige besuchte Galina für drei Monate ein Ferienlager mit ihren Klassenkameraden. In ihrem Zimmer gab es ein Mädchen, das ihre Freundinnen anstachelte, nicht mehr mit Galina zu sprechen, woraufhin ihre eigene Clique sie boykottierte. „Das war der einzige Grund: Jüdin“, erinnert sich Galina. Nach den Ferien habe sie dann die Schule gewechselt. „Das war meine einzige Erfahrung mit Mobbing aufgrund des Jüdischseins“, sagt Galina.

Auch Clara hat etwas zu diesem Thema zu sagen, selbst wenn sie bisher noch keine negativen Erfahrungen gemacht hat. Als sie von der jüdischen Grundschule auf das staatliche Gymnasium gewechselt ist, hat sie erzählt, dass sie jüdisch ist und es hat keiner reagiert. „In meinen Wurzeln stecken schon christliche und jüdische Wurzeln, aber ich habe gesagt, dass ich jüdisch bin,“ erklärt sie. „Jüdisch sein bedeutet, dass man nicht verheimlicht, dass man jüdisch ist, nur, weil man dann gemobbt wird.“

Mit Anfeindungen hatte auch David nie Probleme. Ich frage ihn, ob er in der Schule den zweiten Weltkrieg durchgenommen hat und wie das für ihn war. Er erzählt: „Wenn im Geschichtsunterricht von den Juden gesprochen wird, die geflüchtet sind und ich darüber nachdenke, dass das meine Oma als kleines Mädchen gewesen ist, dann ist das schon was, das mich mehr betrifft als andere Mitschüler.“ David redet auch mit seinen Freunden viel über Politik und Geschichte, aber über den Holocaust wird vergleichsweise wenig gesprochen. Er selbst denkt häufiger über solche Themen nach: „Vor ein paar Jahren war der 80ste Geburtstag meines Opas väterlicherseits. Er ist mit Nationalsozialismus aufgewachsen, vielleicht wurde er ein Stück weit auch nationalsozialistisch erzogen, während meine andere Oma eben davor geflüchtet ist. Und 80 Jahre später auf dem Geburtstag unterhalten die beiden sich ganz normal. Da habe ich lange drüber nachgedacht, wie sich das über die Jahre verändert hat.“

Die Bedeutung Israels

Während unserer Unterhaltung haben Galina und Thomas mehrfach betont, dass der Staat Israel für sie im Gegensatz zum jüdischen Glauben ein größeres Thema ist. Ich frage die beiden danach. Für Galina hat Israel eine ganz besondere Bedeutung. Denn für sie heißt Jüdischsein vor allem die Zugehörigkeit zum jüdischen Volk. Ihr ist es wichtig, dass es einen Zufluchtsort auf der Welt gibt, wo man als Jude leben kann.

Auch Thomas erzählt, dass sich seine Sicht auf Israel durch das Leben mit Galina und die Besuche und Gespräche mit den Leuten vor Ort über die Jahre verändert hat. Er berichtet mir von Galinas Cousin, der in einer Region lebt, die von arabischem Gebiet umkreist ist: Auch wenn dort noch nie etwas passiert ist, liegt dennoch eine Pistole unter seinem Bett. Seine drei Kinder sind mittlerweile in der Armee, auch die Töchter, und er spielt als Familienvater mit dem Gedanken, das Land zu verlassen. Thomas findet es wichtig, dass man in Deutschland die Menschen in Israel anders wahrnimmt und wünscht sich, dass die Deutschen Verständnis aufbringen für Israel.: „Die Menschen dort wollen nicht mit einer Pistole unter dem Kopfkissen leben, 30 Prozent ihrer Steuer für Militärausgaben zahlen und diese abgegrenzten Regionen haben, in die sie nicht rein dürfen. Da muss eine Lösung her und da sollten alle dran arbeiten.“ Ein Punkt, der ihn sehr beschäftigt, sei die Verpflichtung, die man als Deutscher dem Land Israel gegenüber habe und mehr verstehen lernen müsse.

Auch Sohn David ist von Israel beeindruckt: „Israel ist ein sehr starkes Land. Ich bin immer wieder erstaunt davon. Ich war jetzt schon dreimal dort und Israel und die Ukraine, das sind meine Lieblings-Reiseziele. Das finde ich viel interessanter und spannender als irgendwo eine Strandreise zu machen.“

Wünsche für Juden heute

Zum Abschluss meines Gespräches möchte ich von Galinas Familie wissen, was sie sich konkret für Juden heute in Deutschland und auf der Welt wünscht. „Dass auch nichtchristliche Feiertage anerkannt werden“, lacht Galina, noch bevor sie richtig nachgedacht hat. „Mehr Normalität“, sagt sie dann. Galina erinnert sich an einen Kindergeburtstag ihres Sohnes. Zu der Zeit habe die Klasse gerade Anne Frank besprochen und eine der Mütter sei auf Galina zugegangen. Sie habe Galina gar nicht richtig ansehen können, schien es aber für nötig zu halten, sie darauf anzusprechen, wie sie es bloß in Deutschland aushalte. Diese Anspannung und Künstlichkeit findet Galina komisch. Deshalb wünscht sie sich, dass es sichtbarer und normal wird, jüdisch zu sein. „Und zwar auch dann, wenn man nicht immer in die Synagoge rennt“, sagt sie und fügt hinzu: „Aber auch, wenn doch. Ich wünsche mir, dass es egal ist. Dass das in einem drin sein kann oder auch nicht, aber dass es einfach ganz normal ist, Jude zu sein.“

Galina ist froh, dass das jüdische Museum in Köln trotz der Petition gebaut wurde und dass die jahrelange Demo am Dom gegen Israel zu Ende ist. Generell findet sie es angenehm, in Köln als Jüdin zu leben. Sie lacht: „Hier ist das Motto sowieso ‚Jeder Jeck ist anders‘.”