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Bildung

Internat: Wenn Zeit mit den Eltern zur Quality-Time wird

Anja Tischer · 27.10.2015

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Journalistin und Buchautorin Heike Kottmann verbrachte einen großen Teil ihrer Schulzeit auf Schloss Salem. / Foto: © privat

Journalistin und Buchautorin Heike Kottmann verbrachte einen großen Teil ihrer Schulzeit auf Schloss Salem. / Foto: © privat

Schätzungsweise 5.000 Kinder in Deutschland leben in einem Internat. Anja Tischer spricht für KÄNGURU mit Journalistin und Buchautorin Heike Kottmann über ihre Zeit auf Schloss Salem und wie sich das Internat auf die Beziehung zu ihren Eltern auswirkte.

Für die einen sind es romantische Bollwerke, hinter denen gut betuchte Kinder behütet aufwachsen, für die anderen sind es Orte, an denen Problemfälle „in die Spur“ gebracht werden: Internate. Das Thema polarisiert, ist in Deutschland vorurteilsbehaftet – und wenig erforscht. „Zur Häufigkeit von Internatsschülern liegen noch keine Studien vor“, sagt Prof. Dr. Volker Ladenthin, Erziehungswissenschaftler an der Universität Bonn. „Schätzungen zufolge leben in Deutschland 5000 interne Internatsschüler. Das sind Schüler, die im Internat zur Schule gehen und dort auch übernachten.“ Hinzu kommen noch die Tagesschüler, die abends nach Hause fahren.

Die Gründe, warum sich Familien für diesen Schritt entscheiden, sind unterschiedlich: Zeitmangel der Eltern, Bildungsambitionen oder sozial-pädagogische Motive können mit hineinspielen. Die 30-jährige Journalistin Heike Kottmann ging im Alter von elf Jahren freiwillig auf das Internat Schloss Salem am Bodensee, denn auf der Schule in ihrem Heimatort wurde sie gehänselt. In ihrem Buch „Licht aus, die Meyer kommt!“ beschreibt sie neun Jahre Salem und räumt mit so manchem Vorurteil über das Thema auf.

KÄNGURU: Wie war es für Sie, nach dem Internat in die „echte Welt“ zu kommen?
Heike Kottmann: Nach dem Abi hatte ich schon Angst davor, allein zu sein. Ich habe dann mit Internatsfreunden erst einmal eine große Reise gemacht. Danach hat sich jeder geordnet. Ich fand es dann auch gut, selbstständig zu sein und alleine zu leben. Manche meiner Internatsfreunde leben bis heute in einer WG zusammen, zum Teil sogar mit Partner. Aber das wäre nichts für mich. Trotzdem sind meine Internatsfreunde bis heute meine engsten Freunde. Wir sind gegenseitig Trauzeugen und Patentanten.

Wie viel hat das echte Internat mit „Das fliegende Klassenzimmer“, „Trotzkopf“ und „Harry Potter“ zutun?
Ich merke immer wieder, dass das Thema Internat sehr unterschiedlich wahrgenommen wird. Die einen finden es total positiv und haben eine romantische Vorstellung davon, andere äußern sich sehr negativ. Klar, man muss sich auf dem Internat in der Gemeinschaft durchsetzen, unter Kindern geht es auch mal ruppig zu. Man muss die Ellenbogen ausfahren und sich behaupten. Aber es trifft beides zu, auch die Romantik.

Welche Vorurteile begegnen Ihnen noch heute?
Auf jeden Fall wird immer gefragt: Was, du warst auf einem Internat? Warum?! Ich muss mich immer rechtfertigen. Am Anfang habe ich deshalb meistens erst einmal ein bisschen gewartet, bis ich es jemandem erzählt habe. In angelsächsischen Ländern ist das Internat viel populärer. In Deutschland herrscht bei vielen das Bild, dass das Internat etwas für Problemfälle ist. Wenn du nicht brav bist, kommst du aufs Internat. In England heißt es eher: Wenn du nicht brav bist, darfst du nicht aufs Internat.

Bevor Sie aufs Internat wechselten, wurden Sie in ihrem Heimatort gehänselt, besonders von einem Jungen, den Sie im Buch Timo Lutz nennen. Haben Sie ihn je wiedergesehen?
Ja, das habe ich. Während ich für mein Buch über die Zeit schrieb, habe ich die Bauchschmerzen von damals gespürt. So absurd das jetzt klingt: Ich bin froh, dass alles so gelaufen ist. Sonst wäre anschließend nie diese schöne Zeit auf dem Internat gekommen. Ich hege keinen Groll mehr gegen Timo Lutz oder meinen damaligen Lehrer, ich habe meinen absoluten Frieden damit gemacht. Wenn ich ihn jetzt auf der Straße sehe, guckt er schnell weg.

Sie hatten bis zur 9. Klasse Heimweh ...
Man braucht einen langen Atem fürs Internat. Natürlich gibt es Streitereien untereinander und Heimweh. Aber ich hatte einen Anlass durchzuhalten. Das Positive hat einfach überwogen. Wenn man sich zusammen auf das nächste Hockey-Spiel vorbereitet, dann ist alles andere schnell vergessen. Außerdem hat das Heimweh auch eine sehr enge Bindung zu meinen Eltern bewirkt. Und das genieße ich heute sehr. Ich weiß die Beziehung zu schätzen, denn ich kenne das Gefühl der Entbehrung.

Sie haben als Kind in Ihrem Heimatort gespürt, wie es ist, nicht dazuzugehören. Gab es umgekehrt im Internat Schüler, die nicht dazugehörten?
Ich kann nur für das Beispiel Salem sprechen, aber dort herrschten zu meiner Zeit strenge Regeln diesbezüglich. Wenn einer gehänselt wurde und die Lehrer haben das mitbekommen, wurde streng durchgegriffen. Hänseln war nicht nur verboten, es wurde auch unter den Schülern als unkollegial angesehen. Im Internat sind alle gleich, es gab zum Beispiel Schulkleidung. Zu meiner Zeit waren rund 35 Prozent der Schüler Stipendiaten, auch aus Familien, die nicht so viel Geld hatten. Das spielte keine Rolle. Natürlich gab es Streitereien, aber systematische Ausgrenzung, so wie ich es in meinem Heimatort erlebt habe, habe ich in Salem nie beobachtet.

Wie ist das, wenn man 24 Stunden am Tag mit den Freunden zusammen ist?
Durch die Gemeinschaftsduschen war man ja sogar im Bad nicht alleine. Aber das war mir nie zu viel. Sogar heute denke ich noch, wie schön das damals war. Trotzdem hat es an den Wochenenden oder in den Ferien auch mal gutgetan, für sich zu sein. Vielleicht war das der richtige Ausgleich.

Haben Sie noch Freunde in Ihrem Heimatort?
Bis heute habe ich bis auf meine Familie keine Anbindung im Heimatort. Dafür habe ich durch das Internat einen großen Freundeskreis und sowohl in München als auch in anderen Städten Freunde. Man könnte eine kleine Deutschland-Tour machen und hat immer eine Übernachtungsmöglichkeit. Dass ich im Heimatort keine Freunde habe, fehlt mir dadurch nicht.

Haben Sie sich richtig frei gefühlt im Internat?
Ja. Denn je strenger die Regeln, desto einladender ist es, sie zu brechen. Wir sind nachts ausgebüchst oder haben uns einfach ein Taxi bestellt. Dadurch kam ein großes Freiheitsgefühl auf. Ich habe mich im Internat immer sehr frei gefühlt, auch im Denken. Als es um die Berufswahl ging, haben uns die Lehrer ermutigt, nicht in Zwängen zu denken und beispielsweise Jura wie der eigenen Vater zu studieren, sondern frei zu sein und eigene Wege zu gehen.

Lernt sich der Schulstoff im Internat besser?
Wir hatten immer die sogenannte Arbeitsstunde. Da haben wir Hausaufgaben gemacht und es war immer ein Lehrer in Reichweite. Bei Problemen konnte man nachfragen. Die Lehrer waren um einen herum, mir hat das viel geholfen. Angebote wie Nachhilfe waren direkt vor Ort, alles war beieinander. Vor dem Abi konnten wir uns gegenseitig abfragen. Wenn ich in Mathe etwas nicht verstanden habe und meine Mentorin auch nicht, dann sagte sie: Geh doch mal kurz nachfragen. Dann habe ich an der Wohnung des Mathe-Lehrers geklingelt, der gerade mit seiner Familie am Tisch saß, und er hat mir noch abends die Ableitung erklärt.

Inwiefern unterscheidet sich das Schüler-Lehrer-Verhältnis von dem auf herkömmlichen Schulen?
Bis heute habe ich zu einigen Lehrern ein sehr enges Verhältnis. Vor allem die Lehrer vom Hohenfels sind elternähnliche Figuren für mich (Anm. d. Red.: In Salem besuchen die jüngeren Jahrgänge den Hohenfels, bevor sie auf das große Schloss wechseln). Einige Lehrer waren auch bei meiner Premierenlesung auf dem Hohenfels dabei. Sie haben mich beim Aufwachsen begleitet, sind Vorbilder und begleiten mich lebenslang. Natürlich gab es auch Lehrer, mit denen das Verhältnis nicht so gut war. Aber die Auswahl an guten Lehrern war auf Salem sehr groß, finde ich. Die Lehrer lassen sich darauf ein, 24 Stunden für die Schüler da zu sein. Meine Eltern konnten immer anrufen. Dadurch, dass die Lehrer ihre Wohnungen in den Internatsflügeln hatten, mussten sie auch an freien Tagen die Flure nutzen und konnten dann nicht einfach nicht ansprechbar für die Schüler sein.

Wie hat das Internat das Verhältnis zu Ihren Eltern verändert?
Ich hatte schon immer ein sehr gutes Verhältnis zu meinen Eltern und habe es bis heute. Ich bin zum Beispiel gerade im Moment mit ihnen zusammen in Mallorca. Das Internat hat die Beziehung auf jeden Fall gefördert. Wenn man sich nur an den Wochenenden und in den Ferien sieht, dann reißt man sich eher zusammen. Die Zeit mit meinen Eltern war Quality-Time. Sie haben dann versucht, mir eine schöne Zeit zu bereiten. Wir haben Ausflüge gemacht, sie haben mein Lieblingsessen gekocht, mir nichts groß abgeschlagen. Die ganzen Pubertätsprobleme mussten dann die Lehrer im Internat ausbaden. Die waren ja auch dafür ausgebildet.

War es nicht schwierig, immer zwischen den beiden Welten zu balancieren?
Nein, überhaupt nicht. Für mich war das eine ganz klar die Schule und das andere mein Zuhause. Wenn man das von Kind an so gewöhnt ist, macht das glaube ich keine Schwierigkeiten.

Haben Sie sich auf die „Welt da draußen“ vorbereitet gefühlt?
Es war ein Sprung ins kalte Wasser, denn das Internat ist schon eine eigene kleine Welt. Es dauert, bis du verstehst, dass das, was du dort gelernt hast, längerfristig etwas bringt. Zum Beispiel Verantwortung in der Gemeinschaft übernehmen. Akademisch habe ich mich sehr gut vorbereitet gefühlt. Aber die erste Zeit nach dem Internat war schon ein Schreck. Auf der anderen Seite habe ich es auch sehr genossen, zum Beispiel zu kochen. Im Internat wird ja immer sehr schnell gegessen, es herrscht regelrechter Futterneid (lacht). Ich musste mir später im Praktikum in der Kantine wirklich sagen: Du musst jetzt nicht so schnell essen, du bist nicht mehr im Internat.

Würden Sie Ihr eigenes Kind auf ein Internat geben?
Ich würde hoffen, dass es irgendwann von selbst aufs Internat will, weil ich immer so schöne Geschichten davon erzähle. Ja, ich könnte mir gut vorstellen, mein Kind aufs Internat zu geben. Aber ich würde mir seine Persönlichkeit vorher genau angucken. Wenn ich ein sehr stilles, introvertiertes Kind hätte, das dort vielleicht untergehen könnte, dann würde ich es möglicherweise lassen.

Haben Sie Tipps für Familien, die über einen Internatsbesuch nachdenken?
Man sollte sich frei machen von den Vorurteilen der anderen. Meine Mutter litt lange darunter, dass andere sie als „Rabenmutti“ bezeichneten. Man sollte sich einfach unvoreingenommen dem Thema nähern. Das gilt vor allem für diejenigen, die Erfahrungen mit düsterer Heimerziehung aus den 1950er Jahren haben. Und man sollte sich das Internat genau anschauen. Es gibt so viele unterschiedliche Schulformen, es gibt Internatsberatung. Ich glaube, dass sich für jedes Kind das richtige Internat findet.

Vielen Dank für das Gespräch.