Kolumne
Shaolin und das Wurstfrollein
Frau Karli · 12.01.2021
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© Getty Images/Tomwang112
Als ich mich Anfang 2020, kurz vor der großen Verheerung, zum Kung Fu-Training in einem Shaolin-Tempel anmeldete, deutete nichts darauf hin, was aus der Sache erwachsen würde. Ich wollte bloß wieder einen fitteren Körper. Und meinen vollgenudelten Geist etwas entlüften. (Die Familien-Rush-Hour zur Bettgeh-Zeit der Kinder außer Haus zu verbringen war sicher ein weiterer attraktiver Faktor.)
Wenn Sie mal live erleben wollen, zu welcher Kraft, Anmut und Präzision ein Mensch imstande ist, sollten Sie jedenfalls mal unseren Großmeister Shi Yan Po kennen lernen. Der Unterschied zwischen ihm und uns Normalmenschen besteht darin, dass er sowohl körperlich als auch geistig voll durchtrainiert ist. Höchstwahrscheinlich sind seine inneren Abteilungen auch nicht so im Widerstreit wie bei vielen gestressten Westlern, sondern geschmeidig und produktiv miteinander verbunden. Zumindest erweckt er beim Training den Eindruck, als hätte er Zugang zu seinem inneren Reich der Mitte.
Inzwischen ist die Welt eine andere. An Tagen, in denen es gefühlt nur noch ums Überleben, um Remote-Arbeit und Homeschooling, um Erneuerung und die ungewisse Zukunft geht, ist das beinharte Training mein Lichtblick. Denn auch wenn der Tempel geschlossen ist, treffe ich mich seit Monaten an drei Abenden pro Woche mit meiner getreuen Partnerin zum Training bei Wind und Wetter. Im schummrigen Licht der Straßenfunzeln folgen wir auf einem Parkplatz der uralten Tradition der Shaolin-Mönche und bringen Körper und Geist mächtig ins Schwitzen. Wenn auch nicht immer in der gebotenen Ruhe und Würde, wie es uns der Großmeister beigebracht hat. Vermutlich wäre er entsetzt zu erfahren, dass wir dabei Musik hören. Und uns in den Pausen unterhalten. Nicht nur über das omnipräsente Thema. Sondern auch über das Wurstfrollein (die Dackeldame der Nachbarn meiner Trainingspartnerin). Über implodierende Beziehungen. Über die inneren Werte meiner Heißluftfritteuse Uschi. Eben alles, was uns dieser Tage Zeit bewegt, bedrückt oder zusammenhält. Und dagegen hätten die Shaolin doch bestimmt nichts einzuwenden.
Herzlichst Ihre
Frau Karli
© John Krempl/photocase.com
Frau Karli lebt zusammen mit ihren beiden Töchtern und ihrem Mann, der zugleich ihre Jugendliebe ist, in freundlichen Verhältnissen irgendwo im Raum Köln. Sie beherrscht das gesamte Alphabet, hält herzlich wenig von medialer Freizügigkeit und kann alle Familienmitglieder am Duft ihrer Stirn erkennen.
In jeder KÄNGURU-Ausgabe und online: Kennt ihr schon alle Frau-Karli-Texte?